Text & Erinnerungen von Siegbert Metelko:
Es gibt Begegnungen, die dem eigenen Leben eine neue, bislang unbekannte Richtung weisen. So war es im Jahre 1986, als ich im Museo Correr in Venedig mit den Bildern von Zoran Music konfrontiert wurde: zum ersten Mal erblickte ich die schrecklichen Visionen der Serie „Non siamo gli ultimi“, die gemalten Leichenberge, in welcher der Künstler in einer nie zu Ende gebrachten Trauerarbeit der Toten KZ-Kameraden im Konzentrationslager Dachau gedachte.
Als junger Mann war er dorthin deportiert worden, verhaftet in Venedig, und nach einer Internierung im Triestiner KZ Risiera di San Saba, jäh herausgerissen aus einer vielversprechenden künstlerischen Karriere. Eine Ironie des Schicksals wollte es, dass Music seinen Verfolgern direkt vor dem Portal des Palazzo Balbi-Valier in die Hände fiel, wo er viel später mit seiner kongenialen Frau Ida Barbarigo wohnen würde.
Hinter diesem schicksalhaften Portal sollte das Paar beider Freund, den französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand beherbergen und ihn bis hart an die Schwelle seines Todes begleiten. Was Zoran Music hatte schauen müssen, die steif gefrorenen Toten unter einem Leichentuch aus Schnee, die Gehenkten am Galgen, wird ihm Albträume verursachen; auch die späteren fulminanten Erfolge in Paris, in Deutschland und in Italien, gipfelnd in der großen Retrospektive im Grand Palais werden daran nichts ändern. Music malt ein Requiem auf die menschliche Zivilisation, ob im heiteren Paris, ob im Karst oder auf seiner Altane in Venedig.
Zoran Music war sozusagen aus dem Paradies seiner Kindheit und Jugend vertrieben worden und kein Rückweg stand ihm offen, es sei denn in der zeitweiligen Einkehr unter den goldenen Mosaiken von San Marco, deren diffuses jenseitiges Leuchten er in späten Bildern einzufangen versucht. Music ist im Collio aufgewachsen jener idyllischen Landschaft nördlich von Gorizia/ Görz/ Nova Gorica. Schon einmal hatte er, im Verlauf des Ersten Weltkriegs mit seinen Eltern die Idylle verlassen müssen, als eine absurde Frontlinie durch die Weinberge verlief.
Prägende Monate verbringt er in Griffen, in Südkärnten; im hohen Alter war es ihm gegönnt, sein früheres Kinderzimmer zu betreten, kurz ehe das zeitweilige Domizil abgerissen wurde. In diesem Leben aus der Flucht aus den Höllen des 20. Jahrhunderts, in der Haft in Dachau, danach aber in der Betrachtung der wiederentdeckten Schönheit der schon gänzlich verloren geglaubten Alten Welt, ist er zum Maler jenes mythischen Kontinents geworden, den wir Mitteleuropa nennen. Dieses Mitteleuropa ist die Synthese aus den Traditionen und Kulturen Europas.
Bereits in den 30-er Jahren hatte er Spanien entdeckt, wo er die Werke von Velazquez und Goya studierte. Beide Künstler haben einen unverkennbaren Einfluss auf seine eigene Malerei, sie lehrten ihn, die Welt aus einer überzeitlichen Perspektive zu sehen: Velazquez als der Maler der Hispanidad, des spanischen Ethos, der über die Höfe von Madrid und Wien in die Kulturgeschichte Mitteleuropas hereinwirkte, Goya als Maler und Chronist der Desaster der napoleonischen Kriege.
Nichts konnte mehr sein wie früher, als Zoran Music 1945 aus dem Konzentrationslager befreit wurde. Dennoch suchte er nach seinen Wurzeln, vielleicht nach Heilung eines letztlich nicht heilbaren Traumas. Denn „non siamo gli ultimi“ – „Wir sind nicht die letzten“: die stumme Klage der Toten wird ihn begleiten, wenn er auch Abstand zu gewinnen sucht.
In Venedig heiratet er Ida Cadorin, geistige Erbin einer legendären Malerdynastie, die sich selbst „Barbarigo“ nennen wird, Paris wird neben Venedig zu seiner zweiten Heimat, die Landschaft des Karstes und Dalmatiens erinnert ihn an die mediterranen Eindrücke seiner Kindheit. Wer heute abseits von der Autobahn entschleunigt durch den Karst über Triest fährt, der vermag ihnen noch zu begegnen, den auf dem trockenen Boden herumgaloppierenden halbwilden Pferdchen, den „Cavallini“. Wie über ein Mosaik aus weißen Steinsplittern laufen sie durch die Gegend, mit einer Art nachdenklichem Humor betrachtet sie Zoran Music und malt sie in ihrer fröhlichen Geschichtslosigkeit.
Nur allzu oft freilich verwandelt sich das Bild vor seinen Augen. Dann gemahnt ihn das weiße Geröll wieder an die weißen Schädel der Toten von Dachau und die Pferdchen erinnern ihn an ein unerreichbares Gefühl der Freiheit, einer Freiheit, die er ständig bedroht weiß. Denn was einmal geschehen ist, das wird sich wieder und wieder wiederholen müssen.
Es gibt für Music keinen Optimismus in der Geschichte, unwiderleglich bleibt die Erfahrung. Seit 1988 hatte ich engeren Kontakt mit Zoran Music. Ich erinnere mich an die vielen Stunden, die wir in seinem Pariser Atelier und seinem prachtvollen Haus in Venedig verbrachten, an die Erzählungen aus seiner Biographie, die die mitteleuropäischen Tragödien des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch zusammenfasst. In seiner Domäne gab er sich stets als Souverän, selbstkritisch verwarf er zuweilen eindrucksvolle Blätter und Skizzen, man musste ihn überreden, nichts zu vernichten.
In seinem bodenlangen weißen Morgenmantel inmitten seiner Arbeiten stehend, erfreute es ihn dennoch, wenn man sich für seine Arbeit interessierte. Er wusste, dass er keiner der künstlerischen Strömungen seiner Epoche angehören wollte und kümmerte sich nicht im Geringsten darum, ob seine Arbeiten einem Trend entsprächen, ob sie sich jemals würden vermarkten lassen. Sein Ruhm erwies sich als zeitentrückt.
Was auch auf die Bilder von Ida Barbarigo zutrifft, deren Porträtserie des Präsidenten Mitterrand ein Wesen enthüllen, das eher aus der Esoterik zu begreifen ist, denn aus der Tagespolitik seiner Amtszeit. In diesem Bereiche verlieren Begriffe wie „Moderne“ oder „Avantgarde“ völlig an Bedeutung. Beide betrachten sie die Welt „sub specie aeternitatis“, von der Ewigkeit her.
Wenn Zoran Music die Barken an den venezianischen Zattere zeichnet und malt, wenn sein Blick an einem Fenster in der roten Fassade eines venezianischen Hauses hängen bleibt, wenn er die Rose im Seitenschiff von San Marco malt, so beschwört er ein Venedig jenseits von Raum und Zeit.
Es geht eine Faszination vom diesem Werk aus, um die man sich anstrengen muss. Wer sich nicht auf die Persönlichkeit des Meisters einlässt, der wird keinen Zugang in seine Welt finden. In einem Gespräch mit Jean-Marie Drot, lüftet er einmal den Schleier der Diskretion und bekennt, bezüglich seiner unter Lebensgefahr entstandenen Zeichnungen aus Dachau: „Ich zeichnete wie in Trance. Ich war wie geblendet von der verzaubernden Großartigkeit dieser Leichenfelder. Von weitem erschienen sie mir wie weiße Schneefelder, wie silbrige Reflexe auf Bergen, oder wiederum wie der Flug vom Möwen, die sich auf der Lagune niederlassen, vor dem schwarzen Hintergrund eines Gewitters über dem Meer …“ Und weiter: „Keineswegs als Reaktion gegen den Schrecken habe ich das Glück der Kindheit wiederentdeckt: kleine Pferde, Landschaften und Frauen Dalmatiens. Sie waren schon vorher vorhanden. Bloß war es mir nachher gegeben, sie anders zu sehen. Nach der Vision dieser aller äußerlichen Attribute, allem Überflüssigen entkleideten Leichen, die von jeglicher Heuchelei und von den Rangunterschieden befreit waren, mit denen sich die Menschen und die Gesellschaft schmücken, glaube ich die furchtbare und tragische Wahrheit entdeckt zu haben, die zu erfahren mir gegeben war…“
So wandelten Zoran Music und Francois Mitterrand die Zattere entlang, zwei Menschen, die eine Ahnung vor dem großen Geheimnis jenseits der Geschichte verband. Dass ich Music eine Strecke seines Lebens begleiten durfte, ist ein Privileg meines Lebens.
Siegbert Metelko (Text für das Kunstmagazin Parnass)
Ein anderes Bild aus meinem Leben wird sich dann vielleicht noch einmal vor meinen Augen zeigen, ein Bild, das mich auch bis heute ständig begleitet: Der greise Künstler Zoran Music in seinem Pariser Atelier oder auf der Altane seines venezianischen Palazzo.
Und der Augenblick, wo der Präsident Mitterrand vor seiner Wohnung in Paris vorfährt, um Kaffee zu trinken. Präsident Mitterrand sollte übrigens Jahre später sein eigenes Sterben inszenieren, als wollte er das Ägyptische Totenbuch als privaten Reiseführer ins Drüben ausprobieren: seine ultimative Reise nach Oberägypten, wo er im Katarakt-Hotel – der Roman „Der Tod auf dem Nil“ von Agathe Christie entstand in diesem Milieu. – auf seine letzte Stunde wartete wird im Gedächtnis bleiben.
Zurück zu Zoran Music. Music war eine Respekt gebietende Gestalt, nichts konnte ihn mehr erschüttern: er hatte dem Tod über Monate täglich ins Auge geschaut.
Music gewährte dem Sterben und dem Tod Einlass ins Bild. Die große Nähe des Todes—Music hat sie erlebt, nicht im provozierenden Kitzel des Russischen Roulettes, der den Tod als kalkulierbares Risiko zum Gesellschaftsspiel macht, sondern in existenzieller Erfahrung.
Um genauer zu sein, er hatte tausenden Leichen in die Augen geschaut, die da wie Brennholz zu Hügeln aufgestapelt vor dem Krematorium des Konzentrationslagers Dachau im Schnee lagen. War ein Stapel verbrannt, kam die nächste Lieferung. Music zeichnete diese Leichenhügel, insgeheim, wenn er ein Blatt Papier auftreiben konnte. Und schon ehe man ihn nach Dachau deportiert hatte, musste er Zeuge des Sterbens werden: Im Zwischenlager holten sie SS-Schergen Tag für Tag Mitgefangene ab, um sie zu ermorden. Music blieb übrig, um Zeugnis abzulegen.
In einem Text zur Ausstellung in der Galerie Naviglio in Venedig im Jahre 1949 schreibt der Befreite:
„Endlich das große Licht, endlich die Sonne, unendlicher Himmel bis zum niedrigen Horizont der Lagune, all das gehört mir, hier kann ich frei atmen… Ist es wirklich wahr, dass niemand mich überwacht? Ist es Wirklichkeit, dass es mir freisteht, zu malen? Ist es war, dass ich die Zeichnungen nicht zu verstecken brauche, sie vierfach zusammenfalten oder in Stücke schneiden muss?“
Aus wenigen Sätzen spricht das Glück eines Menschen, der in einer Welt jenseits aller Vorstellungen gelebt hat, in einer Welt, wo der TOD „normal“, wo das Grauen Alltag war.
War? Oder IST?
Fortan betrachtete Music die Natur unter diesem Aspekt. Die lieblichen Hügel der Toskana erschienen ihm wie notdürftig kaschierte Leichenhügel, Skeletthaufen.
Und immer wieder drängte sich ihm der stumme Schrei aus den offenen Mündern der Toten auf: „Wir sind nicht die Letzten, non siamo gli ultimi…“
Der Künstler wird bis zu seinem eigenen Tod nie aufhören, diesen Schrei in seinen Bildern immer aufs Neue zu artikulieren.
Noch Jahrzehnte nach den real geschauten Schreckensbildern haben die Nachtgesichte der tödlichen Verfinsterung den Maler wieder eingeholt.
Und dennoch, Zoran Music ruhte unerschütterlich in sich selbst. Woher bezog er seine Seelenstärke, habe ich mich oft gefragt. Vielleicht war er stark geworden, weil er in seinem Leben viele Tode gesehen hat und daher innerlich im Voraus viele Tode gestorben ist. Vielleicht erging es ihm ähnlich wie Dostojewski, der als revolutionär inspirierter junger Dichter verhaftet worden war und, in Totenkleider gehüllt an einen Pfosten gefesselt vor einem Exekutionskommando stand. Eine Scheinhinrichtung. Dann wurde ihm die Begnadigung vorgelesen und das Urteil: Verbannung nach Sibirien. Unter diesem Eindruck wurde er zum Propheten unter den russischen Dichtern…
Ich habe in über 300 Seiten von Notizen und Aufzeichnungen unserer Gespräche jene herausgeholt, die das Leitmotiv seines immensen Werkes betreffen, die „Totenbilder“. Music hat Forderung aber, die jedem gestellt wird, im Übermaß erfüllt; „DENK AN DEN TOD!“. Das Bewusstsein von Auslöschung und Vergänglichkeit prägt bis zu den letzten Bildern des Künstlers eine Bildatmosphäre der farbigen Verschleierung und der figuralen Verflüchtigung.
„Wir sind nicht die letzten…“ Ich habe 1992 einen Text zu einer Ausstellung von Zoran Music geschrieben, damals angesichts der Gräuel des Krieges in Bosnien. Er gilt auch heute, wenn wir an Aleppo, Mossul oder an den weltumspannenden Terror denken.
Siegbert Metelko, 2016
Siegbert Metelko war ein enger Wegbegleiter von Zoran Music
Strukturbilder zu Zoran Music
Manfred Pichler ist Photographic-Artist und hat diese Strukturbilder zu Zoran Music veröffentlicht. www.pichler-fotokunst.at