Zusammengestellt von Siegbert Metelko:
Texte, die zu unterschiedlichen Anlässen entstanden sind:
Wie jede Ausstellung, so ist auch diese in erster Linie Ergebnis der genießerischen Willkür der Berufsästheten, also nicht viel mehr als eine Annäherung an das Lebenswerk des Künstlers; ein bloßer Versuch, bis an den Kern der Sache zu gelangen. Gut so, denn ein gewisses Mysterium muss bleiben. Manche von den hier Anwesenden haben schon vor Jahrzehnten begonnen, stille Selbstgespräche vor den Bildern Zoran Mušičs zu führen; schön, dass Sie da sind! Ich halte es dennoch oder eben deswegen für meine Aufgabe, Ihnen die Stationen unseres kuratorischen Streifzuges durch diese Lebenslandschaften zu präsentieren.
Erste Station
Der junge Zoran Mušič, der noch vieles nicht weiß, eines aber mit größter Sicherheit: Er kann nur Maler werden, und nichts anderes. Er ist ein Kind seiner Zeit und Student an der Akademie der bildenden Künste in Zagreb, in der Meisterklasse des Malers und Kunsttheoretikers Ljubo Babić, der seinerseits ein Schüler von Franz von Stuck war. Man kennt an der Zagreber Akademie die aktuellen Ismen und die gesellschaftspolitische Grafik aus der Weimarer Republik. Der Professor legt aber seinem Begabten Schüler einen Spanien-Aufenthalt nahe, worauf der 26jährige Mušič im Prado den Kontinent Goya und seine Abgründe kennenlernt. Nach wie vor hat das keine großen Auswirkungen; bis 1944 ist Zoran Mušič lediglich einer von den vielen guten Spätimpressionisten. Im Frühjahr 1944 kommt er nach Venedig, wo er das Gold der Lagunenstadt und seine künftige Frau kennenlernt. Es werden erste internationale Netzwerke gesponnen.
Nächste Station
Eine Zäsur, die man in ein einziges Wort fassen kann: Dachau. Zoran Mušič ist dort jemand, der unter seiner 6-stelligen Häftlingsnummer zeichnet, also lebt.
Nächste Station
Die Rückkehr nach Venedig im Herbst 1945 und – wie der Maler selbst meinte – das Wiederaufwachen in Byzanz. Eben nicht das Geborenwerden, sondern nur ein Wiederaufwachen: Die Markuskirche ist wieder greifbar nah, außerdem ist Zoran Mušič schon 1929 in Wien den Bildwelten eines anderen Malers begegnet, der seinerzeit vom Sonnenschein der ravennatischen Mosaiken geblendet war, nämlich Gustav Klimt. Zoran Mušič malt ikonenhafte Porträts seiner Frau, die das Werk des Malerfreundes Massimo Campigli befruchten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit entdeckt der Maler auch das Thema „Pferd“ für sich neu – weniger jenes sehnige, schwitzende, im Hier und Jetzt gefangene Tier, als jenes Urtümliche, jenes aus der Höhlenmalerei und den Bilderfriesen der verschütteten Zivilisationen Kreta und Mykene. Einleuchtend, denn auch die Malerei des Zoran Mušič befindet sich gewissermaßen in der Stunde Null, auch sie muss nach dem erlebten Inferno des Konzentrationslagers ganz von vorn anfangen, scheinbar ohne nachvollziehbare Voraussetzungen. „Ein Maler kann nicht auf fremden Erfahrungen bauen, oder auf etwas, was jemand anderer entdeckt hat“ so Mušič in einem Gespräch. Und weiter: „Das einzig Wichtige ist die Wirklichkeit, die du in dir trägst, sofern du eine hast. Du kannst keine fremden Wirklichkeiten nutzen“. Zitat Ende.
Nächste Station
Im Jahr 1948, während einer Zugfahrt, die Entdeckung der umbrischen und toskanischen Landschaften, also der Hügelwelten, die keine Vergangenheit haben, denn sie sind die Vergangenheit selbst – nackt, vernarbt, vertrocknet; bedeutungsschwanger und gleichzeitig nichtssagend. In Paris, wo er ab 1952 lebt, übersetzt Mušič die Hügel, und die Pferde, und die Bäuerinnen aus der arkadischen Landschaft Dalmatiens in ein abstrahierendes Gewebe – nicht als braver Soldat der Nouvelle École de Paris (der er ohne weiteres zugezählt wird!), sondern als schüchterner Mystiker, der die Welt der sichtbaren Dinge erklärt, verklärt und darin gleich auch kleine zeltartige Oasen für sich sucht – sichere Orte, die für den Überlebenden eines Konzentrationslagers nach wie vor Mangelware sind.
Nächste Station
Der Anpassungsdruck seitens des Pariser Umfeldes ist derart stark, dass Mušič Ende der 50er Jahre einen Schritt in Richtung ungegenständlicher Malerei wagt. Da er aber geistig immer noch fest auf dem dalmatinischen Boden steht, ist sein Gastauftritt im exhibitionistischen Theater der Tachisten und Informelisten mit keinem großen Risiko verbunden. Der semiabstrakte Maler Mušič findet, ohne gesucht zu haben, hält aber den Fund für nicht besonders spektakulär (wir schonJ). Die Rückkehr zur figurativen Malerei führt über die rar gestreuten Blumen in Cortina d’Ampezzo und den neuen Pferden zu den brüderlichen Leichen aus dem Zyklus Wir sind nicht die Letzten.
Nächste Station
Frühe Siebzigerjahre. Zoran Mušič hat die Schaffenskrise schon seit einiger Zeit überwunden und malt in der Nähe der Côte d’Azur feuerbeständige Korkeichen. Er bewundert ihre Ausdauer und die raumgreifende Gestik ihrer Äste und Wurzeln. Erschreckend und hilflos zugleich, gemahnen sie irgendwo an die suchenden Finger seiner Leidensgenossen aus Dachau. Lange, suchende Finger sieht man auch in den Doppelporträts, die um 1990 den Maler mit seiner Frau Ida zeigen, dort also, wo das „Drama Kontaktlosigkeit“ stattfindet, wie Werner Spies treffend bemerkte. Die feurige Frisur der Frau gleicht einer wolkenartigen Baumkrone, wie man sie in so manchen dämmrigen Landschaftsstücken von Klimt findet. In den 80ern und 90ern malt er dann noch einmal auch Venedig und Paris; diese Orte seiner künstlerischen Entfaltung werden in den Bildern gewissermaßen zu dem, was für Gustav Meyrink Prag und für Charles Rodenbach Brügge waren – Heimstätten im Unheimlichen.
Und die letzte Station,
die endgültig beweist, dass Zoran Mušič ein mutiger Künstler war. Ausgerechnet Venedig, einer unter Touristenströmen versinkenden und über alle Maße klischeebehafteten Stadt, hielt er jahrzehntelang die Treue. Ausgerechnet auf einem scheinbar verlorenen Posten, nämlich im Medium Malerei, verteidigte er seine persönliche Integrität.
Ohne in die Niederungen der politischen Arena herabzusinken, war er Humanist par excellence und Verfechter der Menschlichkeit, die auch und vor allem eine Menschlichkeit sich selbst gegenüber war – eben im Sinne jener Wahrheit, die dem Menschen zumutbar ist. Zum Beispiel die Vergänglichkeit. Zum Beispiel die Tatsache, dass jede Überzeugung und jede Gemütslage des Einzelnen bloße Momentaufnahmen sind, Ausgeburten menschlicher Unfähigkeit, auch nur mit dem Begriff Ewigkeit umzugehen, geschweige denn mit der Ewigkeit selbst. In seinen späten, abgründigen Selbstakten schlägt Zoran Mušič eine andere Richtung ein. Sie sind Sequenzen eines Reinigungssrituals vor dem endgültigen Abschiednehmen. „Der Tod ist der einzige Zustand der Vollkommenheit, der für einen Sterblichen erreichbar ist“, schrieb Emil Cioran. Darauf war nicht der Künstler, sondern der Mensch Zoran Mušič gut und angstfrei vorbereitet. Ein Mensch, der sich wohl bis zum letzten Atemzug nach etwas sehnte, was nie sein wird, nämlich nach der Stille, die wir spätestens ab heute Abend als immaterielles Kulturerbe betrachten sollten.
Es gibt Begegnungen, die dem eigenen Leben eine neue, bislang unbekannte Richtung weisen. So war es im Jahre 1986, als ich im Museo Correr in Venedig mit den Bildern von Zoran Music konfrontiert wurde: zum ersten Mal erblickte ich die schrecklichen Visionen der Serie „Non siamo gli ultimi“, die gemalten Leichenberge, in welcher der Künstler in einer nie zu Ende gebrachten Trauerarbeit der Toten KZ-Kameraden im Konzentrationslager Dachau gedachte.
Als junger Mann war er dorthin deportiert worden, verhaftet in Venedig, und nach einer Internierung im Triestiner KZ Risiera di San Saba, jäh herausgerissen aus einer vielversprechenden künstlerischen Karriere.
Eine Ironie des Schicksals wollte es, dass Music seinen Verfolgern direkt vor dem Portal des Palazzo Balbi-Valier in die Hände fiel, wo er viel später mit seiner kongenialen Frau Ida Barbarigo wohnen würde.
Hinter diesem schicksalhaften Portal sollte das Paar beider Freund, den französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand beherbergen und ihn bis hart an die Schwelle seines Todes begleiten. Was Zoran Music hatte schauen müssen, die steif gefrorenen Toten unter einem Leichentuch aus Schnee, die Gehenkten am Galgen, wird ihm Albträume verursachen; auch die späteren fulminanten Erfolge in Paris, in Deutschland und in Italien, gipfelnd in der großen Retrospektive im Grand Palais werden daran nichts ändern. Music malt ein Requiem auf die menschliche Zivilisation, ob im heiteren Paris, ob im Karst oder auf seiner Altane in Venedig.
Zoran Music war sozusagen aus dem Paradies seiner Kindheit und Jugend vertrieben worden und kein Rückweg stand ihm offen, es sei denn in der zeitweiligen Einkehr unter den goldenen Mosaiken von San Marco, deren diffuses jenseitiges Leuchten er in späten Bildern einzufangen versucht. Music ist im Collio aufgewachsen jener idyllischen Landschaft nördlich von Gorizia/ Görz/ Nova Gorica. Schon einmal hatte er, im Verlauf des Ersten Weltkriegs mit seinen Eltern die Idylle verlassen müssen, als eine absurde Frontlinie durch die Weinberge verlief.
Prägende Monate verbringt er in Griffen, in Südkärnten; im hohen Alter war es ihm gegönnt, sein früheres Kinderzimmer zu betreten, kurz ehe das zeitweilige Domizil abgerissen wurde.
In diesem Leben aus der Flucht aus den Höllen des 20. Jahrhunderts, in der Haft in Dachau, danach aber in der Betrachtung der wiederentdeckten Schönheit der schon gänzlich verloren geglaubten Alten Welt, ist er zum Maler jenes mythischen Kontinents geworden, den wir Mitteleuropa nennen. Dieses Mitteleuropa ist die Synthese aus den Traditionen und Kulturen Europas.
Bereits in den 30-er Jahren hatte er Spanien entdeckt, wo er die Werke von Velazquez und Goya studierte. Beide Künstler haben einen unverkennbaren Einfluss auf seine eigene Malerei, sie lehrten ihn, die Welt aus einer überzeitlichen Perspektive zu sehen: Velazquez als der Maler der Hispanidad, des spanischen Ethos, der über die Höfe von Madrid und Wien in die Kulturgeschichte Mitteleuropas hereinwirkte, Goya als Maler und Chronist der Desaster der napoleonischen Kriege.
Nichts konnte mehr sein wie früher, als Zoran Music 1945 aus dem Konzentrationslager befreit wurde. Dennoch suchte er nach seinen Wurzeln, vielleicht nach Heilung eines letztlich nicht heilbaren Traumas. Denn „non siamo gli ultimi“ – „Wir sind nicht die letzten“: die stumme Klage der Toten wird ihn begleiten, wenn er auch Abstand zu gewinnen sucht.
In Venedig heiratet er Ida Cadorin, geistige Erbin einer legendären Malerdynastie, die sich selbst „Barbarigo“ nennen wird, Paris wird neben Venedig zu seiner zweiten Heimat, die Landschaft des Karstes und Dalmatiens erinnert ihn an die mediterranen Eindrücke seiner Kindheit. Wer heute abseits von der Autobahn entschleunigt durch den Karst über Triest fährt, der vermag ihnen noch zu begegnen, den auf dem trockenen Boden herumgaloppierenden halbwilden Pferdchen, den „Cavallini“. Wie über ein Mosaik aus weißen Steinsplittern laufen sie durch die Gegend, mit einer Art nachdenklichem Humor betrachtet sie Zoran Music und malt sie in ihrer fröhlichen Geschichtslosigkeit.
Nur allzu oft freilich verwandelt sich das Bild vor seinen Augen. Dann gemahnt ihn das weiße Geröll wieder an die weißen Schädel der Toten von Dachau und die Pferdchen erinnern ihn an ein unerreichbares Gefühl der Freiheit, einer Freiheit, die er ständig bedroht weiß. Denn was einmal geschehen ist, das wird sich wieder und wieder wiederholen müssen.
Es gibt für Music keinen Optimismus in der Geschichte, unwiderleglich bleibt die Erfahrung.
Seit 1988 hatte ich engeren Kontakt mit Zoran Music. Ich erinnere mich an die vielen Stunden, die wir in seinem Pariser Atelier und seinem prachtvollen Haus in Venedig verbrachten, an die Erzählungen aus seiner Biographie, die die mitteleuropäischen Tragödien des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch zusammenfasst. In seiner Domäne gab er sich stets als Souverän, selbstkritisch verwarf er zuweilen eindrucksvolle Blätter und Skizzen, man musste ihn überreden, nichts zu vernichten.
In seinem bodenlangen weißen Morgenmantel inmitten seiner Arbeiten stehend, erfreute es ihn dennoch, wenn man sich für seine Arbeit interessierte. Er wusste, dass er keiner der künstlerischen Strömungen seiner Epoche angehören wollte und kümmerte sich nicht im Geringsten darum, ob seine Arbeiten einem Trend entsprächen, ob sie sich jemals würden vermarkten lassen. Sein Ruhm erwies sich als zeitentrückt.
Was auch auf die Bilder von Ida Barbarigo zutrifft, deren Porträtserie des Präsidenten Mitterrand ein Wesen enthüllen, das eher aus der Esoterik zu begreifen ist, denn aus der Tagespolitik seiner Amtszeit.
In diesem Bereiche verlieren Begriffe wie „Moderne“ oder „Avantgarde“ völlig an Bedeutung. Beide betrachten sie die Welt „sub specie aeternitatis“, von der Ewigkeit her.
Wenn Zoran Music die Barken an den venezianischen Zattere zeichnet und malt, wenn sein Blick an einem Fenster in der roten Fassade eines venezianischen Hauses hängen bleibt, wenn er die Rose im Seitenschiff von San Marco malt, so beschwört er ein Venedig jenseits von Raum und Zeit.
Es geht eine Faszination vom diesem Werk aus, um die man sich anstrengen muss. Wer sich nicht auf die Persönlichkeit des Meisters einlässt, der wird keinen Zugang in seine Welt finden. In einem Gespräch mit Jean-Marie Drot, lüftet er einmal den Schleier der Diskretion und bekennt, bezüglich seiner unter Lebensgefahr entstandenen Zeichnungen aus Dachau: „Ich zeichnete wie in Trance. Ich war wie geblendet von der verzaubernden Großartigkeit dieser Leichenfelder. Von weitem erschienen sie mir wie weiße Schneefelder, wie silbrige Reflexe auf Bergen, oder wiederum wie der Flug vom Möwen, die sich auf der Lagune niederlassen, vor dem schwarzen Hintergrund eines Gewitters über dem Meer …“ Und weiter: „Keineswegs als Reaktion gegen den Schrecken habe ich das Glück der Kindheit wiederentdeckt: kleine Pferde, Landschaften und Frauen Dalmatiens. Sie waren schon vorher vorhanden. Bloß war es mir nachher gegeben, sie anders zu sehen. Nach der Vision dieser aller äußerlichen Attribute, allem Überflüssigen entkleideten Leichen, die von jeglicher Heuchelei und von den Rangunterschieden befreit waren, mit denen sich die Menschen und die Gesellschaft schmücken, glaube ich die furchtbare und tragische Wahrheit entdeckt zu haben, die zu erfahren mir gegeben war…“
So wandelten Zoran Music und Francois Mitterrand die Zattere entlang, zwei Menschen, die eine Ahnung vor dem großen Geheimnis jenseits der Geschichte verband. Dass ich Music eine Strecke seines Lebens begleiten durfte, ist ein Privileg meines Lebens.
Siegbert Metelko (Text für das Kunstmagazin Parnass)
Zoran Musics Kunst in diesen Zeiten in der Alberti-na zeigen zu dürfen ist eine große Freude und ein wichtiges Anliegen. Wie wenige andere Künstler vereinigt Music durch sein Leben und seine Kunst die Qualitäten des adriatischen Alpenraumes, dessen Schicksal heute alle Herzen bewegt. In Görz noch vor dem Ersten Weltkrieg geboren und in der Gegend um Triest aufgewachsen, in jungen Jahren in die Steiermark und nach Kärnten verschlagen, dann an der Akademie in Zagreb ausgebildet, von wo er Wien und Prag besuchte, und schließlich in Venedig erst als künstlerische Potenz erkannt, ist er ein Kind unseres Raumes. Die Motive des Kunstgebietes des Veneto und Dalmatiens und die Ästhetik der byzantinischen Tradition dieser Ostgebiete bildeten die Basis seiner Kunst. Von da erstreckte sich sein Interesse nach Madrid und schließlich nach Paris, das er neben Venedig nach dem Zweiten Weltkrieg zur Hauptresidenz erkor. Vom Mitteleuropäer wurde er zum Europäer und entfaltete in der Polarität von West- und Osteuropa seine stärksten Kräfte.
In der Mitte seines Lebens wurde er auch hineingezogen in den Schrecken unseres europäischen Schicksals. 1944 wurde er von der SS gefangengenommen und als angeblicher Kollaborateur des Widerstands nach Dachau deportiert. Schönheit und Grauen unserer Zeit hat er so erlebt und mit den Tiefen unserer Vergangenheit, den bäuerlichen Traditionen Dalmatiens und dem Glanz und
der Eleganz des alten Venedigs sowie der Gemüt-haftigkeit des altösterreichischen Raumes verbunden. Daraus zieht Musics Kunst ihre Eigenart und kann uns helfen, in unserer Zeit der Zerrissenheit und Zersplitterung das zu erkennen, was diesen südöstlichen Teil des alten Mitteleuropas zutiefst zusammenhalten sollte, eine tiefe, humane Kultur und Empfindsamkeit, die Mensch und Natur verbindet.
Die Ausstellung wurde von der Albertina in Zusammenarbeit mit der Stadt Klagenfurt organisiert und unter Mithilfe von Sponsoren finanziert. Victoria Martino lieh ihr gutes Auge, um aus der Fülle der Zeichnungen das Beste herauszuholen und um Vielfalt und Kohärenz in der Ausstellung, im Katalog und seiner Gestaltung zu sichern. Sylvio Acatos und Armande Reymond liehen uns ihre Dokumentation für den Œuvrekatalog des malerischen Werkes von Zoran Music, der im Frühjahr 1993 erscheinen wird, von dem wir aber nur die Liste der Einzelausstellungen hier abdrucken. Der Künstler unterstützte uns in jeder Hinsicht. Wir hoffen, daß diese neue Auswahl aus Musics zeichnerischem Werk und die eigens für den Katalog geschriebenen Texte einen neuen Einblick in das Werk dieses bedeutenden Einzelgängers in der modernen Kunst geben werden.
Siegbert Metelko
Letzter Blick auf Zoran Music, den ich mehr als 25 Jahre lang bald aus der Nähe, bald aus der Ferne begleiten durfte: Der Vaporetto fährt unter dem Ponte dell´Accademia durch, Richtung San Marco. Auf der geschwungenen Estrade des Palazzo Balbi-Valier die hochgewachsene Gestalt des alten Herrn, die Abendbrise weht ihm eine Haarsträhne ins Gesicht. Es würde aber nichts helfen, ihm im Vorüberfahren ein Zeichen zu machen. Zoran Music ist nahezu erblindet. Dennoch scheint er jetzt etwas unendlich weit Entferntes angestrengt zu fixieren, als wollte er dieses Etwas unbedingt noch ergründen.
Was befindet sich hinter dem Schleier, den der graue Star vor seine prüfenden Augen gezogen hat? Was haben die Augen der in Dachau im Schnee übereinander gestapelten Toten noch erfasst, deren Blick Zoran Music nie vergessen hat? Warum hat sich der Freund Francois Mitterrand kurz vor seinem Tod nach Ägypten, ins Katarakthotel, begeben? Was wollte er unbedingt noch sehen? Hat er es gesehen? Hat er es Zoran Music noch verraten?
Zuletzt war Zoran Musics Blick eng geworden, ein Tunnelblick mit einer diffusen Ahnung von Licht am Ende der Röhre, wie auf dem Bild von Hieronymus Bosch im Museo Civico Correr auf der Piazza San Marco. Zoran Music ist auf das vorher Gesehene angewiesen: Die Totenberge von Dachau, die gequälten Menschen, die ihm aufgetragen haben, es den Lebenden mitzuteilen: „Non siamo gli ultimi.“ Die trockenen Karsthänge Dalmatiens mit ihren
Pferdchen und Eselchen. Die roten Fassaden Venedigs, die Frühnebel über den Kähnen, die an den Zattere tümpeln; täglicher Spaziergang, von seiner Wohnung aus. Und, immer wieder, lebenslange Faszination und Obsession, dass Antlitz der Geliebten, der geheimnisvollen venezianischen Frau mit der kastanienfarbenen Mähne: Ida. Viel schattenhafter die Erinnerung an das eigene Spiegelbild. Es wurde, über die Jahre, zu einer Ikone, nicht seines Ich, sondern des Unnennbaren hinter jedem Ich.
Ich entsinne mich des luziden vorausahnenden Porträts, das Raymond Cogniat schon 1972 über Zoran Music verfasst hat: Erst viel später ist er zu dieser Gestalt geworden.
Und Jacques Lassaigne, Direktor des Musée de l´Art Moderne de la Ville de Paris, meinte im selben Jahr:
Musics Arbeit ist kein Aufschrei des Aufbegehrens, sie erhebt keine Anklage. Vielmehr ist sie eine Meditation dessen, was er in den Konzentrationslagern erlebt hat. Er hat selbst alle Kreise der Hölle durchschritten. Aber heute bewahren die schrecklichsten Themen unter seiner Hand eine Art Diskretion, eine Art Reinheit. Das Bild spricht durch sich selbst, ohne jemals theatralisch oder literarisch zu werden. Goya begnügte sich damit, unter manche seiner Radierungen zu schreiben: „Das habe ich gesehen.“ Music offenbart das Leid, erlöst es gewissermaßen. Durch den magischen Akt der Malerei verwandeln sich die tragischen Gestalten, die er beschwört, in seltsame Blüten. In den hervortretenden Knochen der Antlitze, in den Augenhöhlen und in den Mündern sammeln sich zarte Schatten. Der Tod, nicht mehr von außen betrachtet, sondern in dieser Intimität, erhält eine beunruhigende Anziehungskraft. In ihrem Verfall nehmen die ausgemergelten menschlichen Körper ungeheure Dimensionen an: Erscheinungen, die eine direkte Sprache sprechen. Über tiefen Schwarztönen spielt eine Palette farbiger Abstufungen, zartes Rosa, Grau und Ocker. Ein Zeugnis dafür, dass die Kunst das Leben ist.
Aber wie vermag ein Mensch mit diesen Erinnerungen zu leben, auch wenn er sie Jahr um Jahr auf seine Bilder bannt? Im Verlaufe unserer Freundschaft hatte ich wieder und wieder Gelegenheit, mit Zoran Music über sein existenzielles Geheimnis zu sprechen.
Bis auf den heutigen Tag spüre ich, dass mir die Augen der Sterbenden folgen. Sie lassen mich seither nie mehr allein: Ich sehe sie noch immer, die hunderten Blicke, die mich um Hilfe anflehten, die mich wohl auch anklagten, wenn ich in der spukhaften Landschaft des Konzentrationslagers über ihre Körper kletterte, mir einen Weg bahnte. Glänzende Augen, die damals still um die Hilfe jener wenigen baten, die noch imstande waren zu gehen. Wenn dann der Abend kam, wurden die Sterbenden und die anderen, die man bereits für tot hielt, übereinander geschlichtet wie Holzscheite. Es sah aus wie ein Scheiterhaufen, beinahe eine Art Turm. Ein spukhafter Turm: es kam mir vor, dass er zitterte und knarrte. Aber diese Geräusche, sie waren vielleicht nichts anderes als das letzte Röcheln der Sterbenden. In der Nacht hat es dann leicht zu schneien angefangen, es war März; und am nächsten Morgen bewegte sich der Turm nicht mehr.
Es war eine absurde, irreale Welt, in der man im Konzentrationslager lebte. Die Regeln waren fremd, aber es gab eine penible Ordnung; sie war grausam, über die Grenzen des Denkbaren hinaus grausam. Jeder, der nur die geringste Machtbefugnis innehatte, durfte dich zertreten wie einen Wurm. Aber seltsam: wir nahmen diese Wirklichkeit hin, so, als gäbe es keine andere mögliche Ordnung. Am Ende zweifelte man, ob es jenseits des Stacheldrahtes überhaupt noch eine Außenwelt gab.
Warten, Apathie. Ich lebte in einer Landschaft der Toten und der Sterbenden. Nichts als Leichenhaufen. Ein grausiges Bild verfolgt mich: Es war Mittag. Ein lebendes Gerippe von Häftling hielt seinen Napf ganz fest in den Händen. Er suchte eine ruhige Ecke, wo er seine Suppe schlürfen konnte. Die war nicht nahrhaft, aber zumindest warm. Er setzte sich auf einen freien Platz. Es war der Kopf eines Toten . . .
Stets gab sich Zoran Music unnahbar, vielleicht besonders seinen Freunden gegenüber; und einfach war der Umgang mit ihm nie. Er schätzte es, wenn man ihm, und damit einer herrschaftlichen mitteleuropäischen Lebensform, die er als der Letzten einer noch verkörperte, Respekt zollte. Man darf nie vergessen, dass er ein Herr war; die Spezies ist beinahe ausgestorben.
Er duldete es, nicht ohne feine Ironie, wenn man, mit Jeans bekleidet, am Fußboden seines Pariser Ateliers oder seiner venezianischen Klausur, unter der Altane mit der Aussicht auf die Lagune, auf den Knien rutschte, um nach Blättern zu suchen. Er nahm es wie eine Huldigung entgegen, die man ihm schuldig war. Gnädig wie ein König von Gottes Gnaden und lächelnd. Einfache und zugleich exquisite Dinge waren es, die ihm Vergnügen bereiteten. In diesem Sinne dürfte er einer der letzten Dandys des Kontinents gewesen sein, ganz im Sinne Baudelaires. Ein Diner mit Mitgliedern ältester venezianischer Familien im rot tapezierten Restaurant an der Ecke des Quai Voltaire mit der Rue du Bac, unter dem Atelier Idas. Und mit Ida als der Königin des Abends. Ein Ausflug in das kärntnerische Griffen, wo er zwei Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Das Haus, wo er mit Eltern und Geschwistern gewohnt hatte, sollte abgerissen werden. So, als gehörte es ihm, stieg er hoheitsvoll die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu seinem Zimmer und inspizierte es, nicht ohne sein undefinierbares Lächeln. Die sachliche Feststellung folgte: Hier war mein Bett. Der Kamin ist noch da. Dann ging es zu den slowenischen Klosterschwestern in Völkermarkt; in ihrem Konvent war er in die Schule gegangen. Er bestand darauf, hier abzusteigen. Jetzt kam er als Grandseigneur. Mit ernster Ironie, diese verließ ihn nie, ließ er sich von den ehrwürdigen Schwestern Kaffee servieren. Bei der Heimfahrt ein Sonnenblumenfeld. Er ließ anhalten, stieg aus, lächelte unmerklich. Er hatte die verlorene Zeit wiedergefunden.
Wann er angefangen habe zu malen, fragte ich Zoran Music einmal. „Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Aber eines weiß ich: ich habe mir nie vorstellen können, etwas anderes zu sein als Maler.“
Zoran Music war ein Mensch Mitteleuropas. Mitteleuropa, das ist jener fast unbekannte Kontinent im Kontinent, der
dem größeren Ganzen eingefügt ist wie eine russische Puppe. Mitteleuropäer, alle Mitteleuropäer, Slowenen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Österreicher, Kroaten, Polen, und und, halten sich und ihre geographisch nie ganz definierbaren Heimaten jeweils für das „Herz Europas“. Und weil sie Skeptiker und wohl auch Hypochonder sind, betrachten sie dieses Herz mit Argwohn. Mit einem historisch berechtigten Argwohn. Karl Kraus hat (indem er vom alten Österreich sprach) die Gegend als Laboratorium für Weltuntergänge charakterisiert.
Um eine Vorstellung von dem mythisch-historischen Begriff Mitteleuropa zu geben, werfen wir einen Blick auf die Stadt Görz/Gorizia/Gorica, wo Zoran Music geboren wurde. Es ist eine weder ethnisch noch historisch definierbare Stadt: Metropole einst einer Grafschaft, zu welcher sowohl der gesegnete Collio gehörte, als auch die Täler des heutigen Osttirol.
Görz grenzte an die Republik Venedig, war mit der Lagunenstadt kulturell innig verbunden, politisch aber verfeindet. Auf der einen Seite das Haus Österreich, Erbe der Görzer Grafen, auf der anderen die Venezianer in ihrer sternförmig angelegten Festung Palmanova. Man sah sich in die Augen und man misstraute einander; argwöhnisch und doch aufeinander angewiesen: durch die gemischte italienisch-friulanisch-slawische Bevölkerung, durch katholische Traditionen, nicht zuletzt durch die Nahrung: Mare è Montagna. Waldpilze und Meeresfrüchte, Polenta, schwarzer Wein.
Mitteleuropa also. Herz, Bauch, aber auch neuralgischer Punkt des Kontinents. Zoran Musics Biographie erscheint mir wie ein Konzentrat der Geschichte des „Kontinents im Kontinent“. Als er am 12. Februar 1909 geboren wird, befindet sich Görz, eine zumindest dreisprachige Stadt, noch unter den Fittichen des hethitisch-byzantinisch- österreichischen Doppeladlers. Görz, wie auch Triest, sind Asylorte für Gestrandete des Welttheaters.
In Görz, auf dem heute slowenischen, seit dem 1. Mai 2004 gemeinsam europäischen Hügel Castagnavizza, ruhen in der Krypta des Franziskanerklosters die Überreste der letzten direkten Nachkommen des heiligen Ludwig: König Karl X. von Frankreich, der 1830 seines Thrones verlustig ging, nachdem sein Bruder Ludwig XVI. 1793 unter dem Fallbeil gestorben war und sein anderer Bruder, Ludwig XVIII., versucht hatte, die Herrschaft des Hauses Bourbon nach der Revolution und dem Empire Napoleons neu zu etablieren. Daneben ruht seine Nichte, die unglückliche Tochter Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes, ebenso wie sein Enkel, der Graf von Chambord, der sich zwar Henri V. nannte, aber nie mehr König wurde.
In Triest verstarb Joseph Fouché, der schreckliche Terrorist der Französischen Revolution, der „Schlächter von Lyon“, Königsmörder, später Polizeiminister Napoleons und noch später des Königs, nachdem er, der abtrünnige Priester, mit seinem Gott Frieden geschlossen hatte. Jeden Tag war er am Kommuniongitter von Santa Maria Maggiore gekniet. Im Dom von Triest liegen Infanten von Spanien begraben, Nachkommen jener Könige, die Goya als Hofmaler beschäftigten.
Ebenso das moralische Universum: gerade dort, wo am Collio der Wein reift, dort brachten im Ersten Weltkrieg eine Million Soldaten einander ums Leben, mittels Artillerie, Maschinengewehr, Bajonett, Giftgas. Erste Erfahrung des Kindes Zoran Music mit der so genannten Geschichte: es heißt fiehen, aus dem verwüsteten Paradies, nach Norden, in die Steiermark, nach Kärnten. Erste Erfahrung: die Menschen bringen einander um. Heimaten sind immer und überall Gegenden, die der Mensch zu verlassen gezwungen ist. Die Strecke, auf welcher das Kind mit seinen Eltern nach Norden fährt, wird Zoran Music noch einmal, und wieder unfreiwillig, fahren. Nachdem er 1943 in Venedig von der Gestapo genau vor dem Tor jenes Palazzo verhaftet worden ist, in den sein weiteres Leben führen würde, nachdem er mit anderen Widerstandskämpfern im Konzentrationslager der Risiera di San Saba in Triest eingesperrt war, wird er im Viehwaggon ins KZ Dachau deportiert.
Das Wort „Non siamo gli ultimi“ drängte sich ihm damals auf: Wir sind nicht die Letzten. Die Verfolgung des Menschen durch den Menschen ist nicht zu Ende. Sie wird nie zu Ende sein. Aus Musics Werk spricht eine, sehen wir von Goya ab, beispiellose Drohung, aber auch eine Warnung für sämtliche Generationen: Wir sind nicht die Letzten.
Zwischen den Erfahrungen des Kindes und des Mannes die Erforschung des so früh angelegten Universums. Das Erlebnis Dalmatien mit den trockenen Felsen, die ins Meer stürzen, die herbe Traurigkeit des Karst, das Erlebnis Spanien, wo eigene Neigung mit dem genius loci zusammenfallen. Goyas mitfühlende, mitleidende, in der Darstellung des Geschauten aber sachliche Illusionslosigkeit vor dem Elend der Menschen, die reduziert silbern schimmernde Palette seiner letzten Jahre, die knappe, farbreduzierte Malerei des Velazquez. Kastilien, das „Land der Steine und der Heiligen“ des Miguel de Unamuno, das Land der Mystiker und Don Quijotes (an den Zoran Music bisweilen erinnerte) hat Mitteleuropa mitgeprägt. Zweihundert Jahre lang ist
Spanien mit dem mitteleuropäischen Raum gewissermaßen verheiratet gewesen. Hier, in Spanien, im Umgang mit seinen Meistern, hat sich Zoran Music die Fähigkeit erworben, das Unmalbare dennoch zu malen. Er ahnte damals nicht, wie nötig er diese spanische Lektion einmal gehabt haben würde. Doch die traumatische Erfahrung der Kindheit erweist sich noch einmal als unwiderlegbar: Es heißt fiehen, von einem Exil in das andere. Als 1936 der Bürgerkrieg in Spanien ausbricht, heißt es auch, von dieser philosophischen und malerischen Heimat Abschied zu nehmen.
Der trotz Mitgefühls illusionslose Blick der Spanier, allen voran Goyas Einsicht in die überaus reale Hölle menschlicher Bosheit und Grausamkeit, wird Zoran Music helfen, das ultimative Grauen zeichnend und malend zu überstehen. So erzählte er mir über seine Versuche, die Erfahrung Dachau, auch vielleicht aus Selbstschutz, zu bannen:
Ganz zögerlich fing ich an zu zeichnen. Vielleicht war das eine Möglichkeit, mich innerlich zu befreien, dachte ich mir. Zuerst waren es Versuche, Dinge festzuhalten, die ich auf dem Weg zur Fabrik, wo wir arbeiten mussten, wahrgenommen hatte. Die Ankunft eines Transports, die heraustretenden Augen von Menschen, die wahnsinnig waren vor Hunger und Durst, die vor Schmutz starrten.
Später ergriff mich eine unglaubliche Zeichenwut. In den letzten Wochen des Konzentrationslagers fand ich Papier und Tinte. Es war schon eine Art Trance, ich war wie geblendet vom schwindelerregenden Pathos der Leichenfelder. Sie schauten von weitem aus wie weiße Schneehaufen, wie der silbrige Reflex schneebedeckter Berge. Tausende Details fielen mir auf, wenn ich zeichnete. Die zerbrechlichen Körper waren von einer seltsam tragischen Eleganz: die Hände, die dünnen Finger, Die halboffenen Münder, die zuletzt noch ein wenig Luft holen wollten. Und die Knochen. Sie waren von einer weißen, bläulich angelaufenen Haut umhüllt . . .
Die Zeichnungen versteckte ich unter Maschinen. Es waren etwa zweihundert Blätter. Ungefähr fünfunddreißig sind davon übriggeblieben.
Die Monstrosität der Konzentrationslager, ich denke immer daran. Was sich dort Tag für Tag ereignet hat, ist nicht zu ermessen. Ich habe das Unerträgliche erfahren. Erst später habe ich die Dimensionen dieser Lektion begriffen. Mit dem Abstand der Jahre scheint es mir, als ob diese Katastrophe vor einem Jahrhundert geschehen wäre. Gleichzeitig glaube ich, dass es erst gestern war. Das Positive an der Erfahrung ist, dass sie mich zum aktiven Denken gezwungen hat. In der Kunst erzählt man sich selbst und nichts anderes. Alles bloß Illustrative vermag mich nicht zu berühren, weil es letztlich doch an der Oberfläche bleibt. Ich wurde einmal gefragt, ob in der Transformation der absoluten Katastrophe in Kunst nicht eine Art Stärke liege. Ich sagte darauf: Ich hoffe doch, dass es eine solche Stärke gibt. Aber kontrollieren könnte ich sie nicht. Zu viel
Bewusstheit, zu viel Kontrolle erzeugen ein System. Ich aber misstraue Systemen und fertigen Formeln zutiefst. Es ist mir immer darum gegangen, das Illustrative, das bloß Schildernde zu vermeiden. Wäre ich Schriftsteller, so würde ich mich nie mit Schilderungen aufgehalten haben. Es wäre mir um die inneren Schmerzen, um das Unsichtbare gegangen. Noch einmal: Die Illustration, die Schilderung in jeder Form stört mich. Sie kann gar nicht anders, als an der Oberfläche zu bleiben. Was bleibt von einem Bild? Das weitergetragene Licht. Was behält der Leser von einem Buch? Die Emotion, die von den handelnden Personen weitergegeben wird. Das, was man Erzählung nennt, ist doch nichts anderes als Schnörkel. Deshalb steht mir Paul Celan so nahe: seine Konzision und seine Scheu vor großen Worten.
Noch einmal: ein Künstler illustriert nicht. Was ich erlebt habe, musste in meinem Inneren reifen.
Im Lager Dachau hatten wir eine gemeinsame Überzeugung: Niemals mehr darf sich dergleichen ereignen. Bis heute aber widersprechen Geschichte und Politik diesem unserem leidenschaftlichen Wunsch.
Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zieht es Music wieder zurück nach Venedig. Er beginnt von neuem an dem magischen Ort, von wo aus er seine Höllenreise nach Dachau angetreten hatte. Venedig als Gegenwelt dieser Hölle. Und als Ort der künstlerischen Neubesinnung:
Zurückgekehrt nach Venedig, habe ich zum ersten Mal die byzantinische Kunst bewusst wahrgenommen. Es war wie ein Erwachen und ein Schock zugleich: Die Byzantiner standen in einer Beziehung zu meiner Gegend. Ich entdeckte die Mosaiken von Venedig und Ravenna: Gesehen hatte ich sie ja schon vor dem Krieg. Und mit den Byzantinern erschlossen sich mir auch die Sienesen mit ihrem geheimnisvollen himmlischen Goldgrund. Und die frühen Florentiner. Ich liebte Cimabue, Giotto und Uccello. Als ich 1948 zum ersten Mal die Toskana bereiste, war ich hingerissen vom blendenden Weiß der sienesischen Hügel. Daraus sind dann meine sienesischen Landschaften entstanden.
Es zählt zu den raren Glücksfällen meines Lebens, dass ich Zoran Music kennen gelernt habe. Ich war 1984 dienstlich in Paris, es ging um die internationale Vorstellung des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises, den ich damals als für Kultur zuständiger Politiker und Vizebürgermeister der Stadt Klagenfurt zu betreuen hatte. Zuvor hatte ich in einer venezianischen Galerie mein erstes Music-Bild erworben, eine Druckgraphik mit dem Titel „Traghetto“. Das war 1978 gewesen. Jetzt, in Paris, bot sich die Gelegenheit, den aus der Distanz verehrten Künstler auch persönlich kennen zu lernen; also rief ich ihn an. Er hat mich für einen der nächsten Tage in sein Atelier bestellt, damals in der Rue des Vignes, in Passy. Der legendäre russische Sänger Shaljapin soll dort eine Wohnung besessen haben.
Zoran Music, als er mir die Tür öffnete: eine überwältigende Persönlichkeit. Da stand er in seinem langen hellen Hausmantel, der ihn wie einen Mönch aussehen ließ. Erst später begriff ich die unbewusste Symbolik dieses Mantels. Zoran Music hatte durchaus etwas von einem weltlichen Mönch an sich, mit seinem gleichfalls mönchischen Hang zur strengen Gewissenserforschung, mit seinen Skrupeln, der Nachwelt etwas nicht völlig Vollendetes zurück zu lassen. Ich musste sehen, dass er Werke, die nicht mehr seinen eigenen Qualitätskriterien entsprachen, aus dem Verkehr zog, indem er sie vernichtete. Zweihundert handschriftliche Seiten bewahre ich bei mir auf, Zeugnisse von den Begegnungen vieler Jahre, die schließlich zu einer Art Freundschaft mit dem ansonsten Unnahbaren wurden.
So hat er mir einmal eine seltsame Geschichte mit Kärntenbezug erzählt: Einige seiner Radierungen gefielen ihm nicht mehr. Er kaufte sie also von einer Galerie in St. Gallen zurück. Nachdem er sie dort abgeholt hatte, überquerte er auf der Heimreise nach Venedig den Großglockner. Am Straßenrand lag noch der Schnee. Music hielt an, stieg aus dem Auto und begrub die Blätter unter den Schneewächten. Das hat seine Vorgeschichte in der französischen und der mitteleuropäischen Kultur: Jean Racine verfügte, dass sein Nachlass verbrannt werden sollte; nichts mehr genügte seinem eigenen radikalen Anspruch. Ebenso verfügte Franz Kafka, sein Werk zu vernichten, was dann glücklicherweise doch nicht durchgeführt wurde. Das eisige Begräbnis beinahe der gesamten Auflage dieser Serie hatte schon in den Fünfzigerjahren stattgefunden, wie mir Music an einem Vormittag in seinem Atelier erzählte. Er sah, wie ich am Boden nach verworfenen Blättern suchte. Und setzte hinzu, dass er auch Aquarelle aus dem Jahr 1965, sie waren im Apennin entstanden, auf ähnliche Weise aus dem Verkehr gezogen habe …
Als Künstler zählte Zoran Music zu den Stillen im Lande. Nach seinen existentiellen Erfahrungen in Dachau konnte er es sich leisten, Moden und Stile zu ignorieren. Er kümmerte sich einfach nicht mehr um das Viele, das sich jedes Jahr als „neu“ rühmte. Auch gegen etwas trat er nicht auf. Als Bürger Venedigs besuchte er, Ida am Arm, regelmäßig die relevanten Ausstellungen, insbesondere im Guggenheim-Museum, ein paar Schritte von seinem Domizil entfernt. Als Citoyen Frankreichs pflegte er die geradezu mystische Freundschaft mit dem Präsidenten Mitterrand. Ida hat ihn offenbar so gemalt, wie er sich selbst sah: als einen Erleuchteten.
Überhaupt Ida: Das innig verbundene Paar lebte quasi getrennt. Music rief sie an, wenn er sie besuchte. In Paris oft über weite Distanzen, in Venedig von Stockwerk zu Stockwerk.
Ida, das war eine eigene Welt: ihre atemberaubend schönen Arbeiten sind unendlich weit von den seinen entfernt. Kein Einfluss, keine Parallele. Von den „Stühlen“ über die okkultistischen Mitterrand-Bilder bis zu den grausam- dionysischen Interpretationen griechischer Mythen, die sie zuletzt in den Salzmagazinen Venedigs ausstellte. Ida war die Gegenwelt, die Zoran Music brauchte, um zu überleben. Angebetet als Frau, gleichrangig als Künstlerin, geheimnisvoll überlegen: sie war die Inkarnation seines Venedigs, der Stadt der Fatalität, der Sehnsüchte, der Einsicht.
Der Kreis schließt sich: der alte, fast blinde Herr, blind wie der Seher Teiresias, blind wie Homer, der vom Balkon des Palazzo Balbi-Valier auf sein Leben zurückblickt, der traurig-ironische Wegweiser und Weggefährte durch viele Jahre, der es nicht mehr wahrzunehmen vermochte, als ich zuletzt im Vaporetto an seiner noblen Gestalt vorbeiglitt. Er hat mein Leben verändert.
Siegbert Metelko